Die Bedeutung der Patientenverfügung für erwachsene, handlungsfähige Personen in der Schweiz
Im letzten Blogbeitrag (Link) haben wir über Patientenverfügungen im Allgemeinen gesprochen: die rechtliche Grundlage, den Inhalt und Umfang, aber auch welche Problematiken und kritische Aspekte beachtet werden müssen.
Heute gehen wir nun auf die Gründe ein, warum die Errichtung einer Patientenverfügung so wichtig ist. Zum einen gibt es persönliche Motivationen, die für jede erwachsene, handlungsfähige Person ganz individuell aussehen können. Doch gibt es auch wichtige, objektive Gründe, warum Sie sich möglichst bald mit Ihrer Patientenverfügung beschäftigen sollten. Aus Relevanz- und rechtlichen Überlegungen beschränken wir uns bei den folgenden Ausführungen auf die Schweiz. Im Jahr 2017 verfügten laut Bundesamt für Gesundheit (BAG) nur rund 16 Prozent der Schweizerischen Bevölkerung über eine Patientenverfügung. Mit zunehmendem Alter ist der Anteil zwar etwas höher.1 Allerdings ist selbst ein Anteil von 35 Prozent ein Hinwies darauf, dass eines der wichtigsten Instrumente zur Wahrung der Patientenautonomie noch bei weitem nicht genügend genutzt wird.
Ausdruck von Selbstbestimmung und Autonomie
Aus der Sicht des Einzelnen sind die in den Grundrechtskatalogen der Bundesverfassung wie auch der Europäischen Menschenrechtskonvention garantierten Rechte auf Leben und persönliche Freiheit sowie auf Privatsphäre die Grundlagen für das Recht auf Selbstbestimmung und Autonomie. Eine Patientenverfügung ermöglicht es einer Person, ihre eigenen medizinischen Entscheidungen zu treffen, auch wenn sie zu einem späteren Zeitpunkt nicht mehr in der Lage sein sollte, diese selbst zu äußern. Sie gewährleistet somit die Selbstbestimmung und Autonomie des Individuums, selbst in schwierigen medizinischen Situationen.
Ein Mittel Behandlungswünsche klar zu kommunizieren
Durch eine Patientenverfügung kann eine erwachsene Person ihre spezifischen Vorstellungen und Wünsche bezüglich medizinischer Behandlungen festhalten. Dies kann beispielsweise die Ablehnung bestimmter medizinischer Maßnahmen wie in folgendem Beispiel sein: Gerald und Elaine Grünberg heirateten 1976 als sie noch beide Studenten der Dentalmedizin waren. Sie praktizierten beide, er in Lausanne und sie in Morges am Genfersee und zusammen zogen sie zwei Söhne groß. Dann bemerkte Elaine im Jahr 2010, dass ihr Ehemann, der ehemalige Superstar in Mathe, plötzlich Schwierigkeiten hatte, Trinkgelder in Restaurants zu berechnen. „Er schien einfach nicht mehr so ‚dabei‘ zu sein“, war ihre Aussage. Kurz darauf kam die verheerende Diagnose eines Neurologen: früh einsetzende Alzheimer-Krankheit. „Wir wussten, was ihn erwarten würde“, erzählte Elaine Grünberg. „Er wollte nicht mit Schläuchen und Windeln daliegen. So wollte er sein Leben nicht beenden.“ Gemeinsam riefen sie einen Anwalt an und verfassten im Jahr 2011 eine Patientenver-fügung. „Wir haben viel darüber gesprochen und nachgedacht“, sagte sie. Seine Verfügung war sehr spezifisch: Wenn er unheilbar krank, dauerhaft bewusstlos oder schwer und irreversibel hirngeschädigt würde, wollte er nur schmerzmildernde Maßnahmen. Keine Herz-Lungen-Wieder-belebung oder mechanische Beatmung. Keine Schlauchernährung. Keine Antibiotika. Gerald Grünberg starb 2016. Aus den medizinischen Unterlagen geht hervor, dass Gerald Grünberg trotz anders lautender Patientenverfügung Antibiotika und andere unerwünschte Behandlungen und Tests erhielt. „Sie haben das Ende seines Lebens schrecklich, schmerzhaft und demütigend gemacht“, sagte Dr. Elaine Grünberg, „was bringt es, eine Patientenverfügung zu haben, wenn sie nicht beachtet wird?“ Eine bewusste und absichtliche Missachtung einer klaren Patientenverfügung durch den Arzt oder die Ärztin hat aber zivil- und sogar strafrechtliche Konsequenzen. Klagen wegen Fahrlässigkeit oder Kunstfehlern von Krankenhäusern und Ärzten behaupten in der Regel, dass diese es ‘versäumt‘ haben, das Leben der Patienten zu retten. In jüngerer Zeit gibt es vermehrt Klagen von Familienangehörigen, wenn medizinische Fachpersonen und Dienstleister es versäumt haben, den dokumentierten Wünschen der Patienten zu folgen und den Tod verhindert haben.
Vermeidung von Konflikten und Unsicherheiten
Eine Patientenverfügung kann dazu beitragen, potenzielle Konflikte und Unsicherheiten innerhalb der Familie oder zwischen medizinischem Personal und Angehörigen zu vermeiden. Wenn die eigenen Wünsche und Vorstellungen schriftlich festgehalten sind, gibt es klare Richtlinien, an die sich alle Beteiligten halten sollten. Allerdings gibt es eine Anzahl von Problemen beim Umgang mit Patientenverfügungen. Die wohl wichtigsten sind, dass Patientenverfügungen oft nicht (recht-zeitig) aufgefunden werden, und dass zu allgemeine Formulierungen den konkreten Nutzen von Patientenverfügungen in Akutsituationen erschwert. Hierzu ist anzufügen, dass eine breite Nutzung des elektronischen Patientendossier den Zugang zu Patientenverfügungen wesentlich verbessern wird. Was Klarheit, Form und Inhalt von Patientenverfügungen betrifft so ist der Hinweis, dass es sich dabei um eine persönliche und einseitige, verbindliche Willenserklärung und damit um ein Dokument mit weitreichender, rechtlicher Wirkung handelt, sicher berechtigt! Damit ist auch gesagt, dass Patientenverfügungen in Zusammenarbeit mit medizinrechtlich bewanderten Juristen verfasst werden sollten. Die vom BAG und SAMW empfohlenen, standardisierten Prozesse mit Gesundheitsfachpersonen sind unseres Erachtens nur in einer kleinen Minderheit der Fälle sachdienlich.
Berücksichtigung individueller Wertvorstellungen
Jeder Mensch hat individuelle Wertvorstellungen und Überzeugungen, die auch in medizinischen Entscheidungen eine Rolle spielen. Eine Patientenverfügung ermöglicht es einer Person, diese persönlichen Aspekte verbindlich auszudrücken und sicherzustellen, dass ihre medizinische Versorgung im Einklang mit ihren eigenen Werten steht. Durch das schriftliche Festhalten ihres Patienten-Willens kann jede volljährige und handlungsfähige Person rechtlich verbindlich festlegen, welche medizinische Behandlung sie im Fall der Urteilsunfähigkeit wünscht oder ablehnt. Doch sowohl in Familien wie auch im engen Freundeskreis und sogar bei Fachpersonen bestehen Hemmschwellen, Gespräche über die Situation einer schweren Krankheit oder eines schweren Unfalls über Sterben und Tod zu führen und sich über die eigenen Vorstellungen und Bedürfnisse auszutauschen, wie Betroffene in nicht mehr selbstbestimmbaren, medizinischen Akutsituationen behandelt werden möchten. Eine objektive und voraus-schauende Auseinander-setzung mit der Situation der Urteilsunfähigkeit, terminaler Krankheit und Tod ist aber Ausdruck eines selbstbestimmten Lebens und Voraussetzung für ein würdevolles Sterben.
- In der Altersgruppe über 65 Jahre hatten damals 35 Prozent eine Patientenverfügung erfasst ↩︎