Das offizielle Schweizer elektronische Patientendossier (EPD)


Idealistische Fiktion oder funktionsfähige Wirklichkeit?

Die aktuelle Fassung des EPD – ein Fehlschlag! Das scheint zumindest die Meinung einer grossen – nicht ganz so schweigsamen – Minderheit zu sein.  Immer wieder zitiert werden dabei die folgenden Gründe:

  • Mangelnde Führung durch Bund und Kantone
  • Eigeninteressen der involvierten Stakeholders
  • ungelöste Finanzierungsprobleme
  • unzureichendes Management von Infrastruktur und Dienstleistungen

Eine weitere Frage stellt sich vielen: inwieweit ist die bis heute mangelnde Verbreitung des EPD auf die doppelte Freiwilligkeit zur Eröffnung und Führung eines Patientendossiers für Versicherte und selbständig praktizierenden Ärzte zurück zu führen? Darüber hinaus herrscht allgemeine Unklarheit über Datenschutz-Risiken.

Als ich 2016 nach mehr als 16 Jahren aus den USA in die Schweiz zurückzog, durfte ich die Verabschiedung des Bundesgesetz über das elektronische Patientendossier (EPDG) im Jahr 2017 miterleben. Ich las den Gesetzestext und viele der Materialien, die zur Verabschiedung des EPDG geführt haben. Und ich war als Jurist fasziniert und positiv überrascht über den fortschrittlichen Charakter der neuen Gesetzgebung – die klar und positiv Stellung für den Patienten bezog.

Ein paar Jahre später, zurück an der UZH für ein Advanced Certificate in Medizinrecht, wurde mir bewusst, wie die vielen verpassten Fristen den Fortschritt dieses monumentalen, kulturprägenden Projekts behinderten. Die über die vergangenen Jahren gewachsene Skepsis in der Schweizer Bevölkerung und die schlichte Weigerung vieler Ärzte und andern Leistungserbringern im Gesundheitsbereich, sich auf das neue System einzulassen, haben zu der aktuell brennenden Frage geführt: Ist das gesamte EPD-Projekt ein idealistischer Papiertiger oder hat das EPD einen realistischen Anspruch auf Nützlichkeit und in Zukunft vielleicht sogar auf Unentbehrlichkeit?

in seiner jetzigen Form ist das EPD Ein Ergebnis innovativer Gesetzgebungsverfahren und – typisch für die Schweiz – von Kompromissen geprägt

Das Bundesgesetz zur Einführung elektronischer Patientendossiers (EPDG) wurde im Hinblick auf ein selbstgesteuertes, hyperpersonalisiertes und wirklich patientenzentriertes Gesundheitssystem erlassen – das übergeordnete Ziel der „eHealth-Strategie“ des Bundes! Das rechtlich und technisch komplexe Unterfangen wurde von Anfang an durch die föderalistischen Traditionen der Schweiz, vier Amtssprachen und die große kulturelle Vielfalt erschwert.

Die erfolgreiche Umsetzung dieses Gesetzesvorhaben war nur dank innovativer Prozesse möglich, indem informierte Stakeholder während der gesamten Beratungszeit mit einbezogen wurden und ihr Fachwissen einbrachten. Die Schwächen, die sich aus Kompromissen – hauptsächlich im Zusammenhang mit der politischen/technischen Machbarkeit – und ungelösten Fragen hinsichtlich der Finanzierung ergaben, wurden eindeutig unterschätzt und waren Hindernisse bei der Umsetzung.

Aufgrund der bemerkenswerten Verzögerung bei der Einführung des EPD haben alternative und proprietäre Anwendungen für den elektronischen Austausch personenbezogener medizinischer Daten ohne Berücksichtigung des EPD stark zugenommen

Seit das EPDG im Jahr 2017 in Kraft getreten ist, nicht zuletzt wegen der bedeutenden, zeitlichen Verzögerung dessen Einführung, haben einige private Medizinaltechnikanbieter (hervorzuheben ist z. B. die amétiq AG) ihre Praxissoftware-Systeme um ein ‘Patientendossier Marke Eigenbau‘ erweitert. Ebenso haben verschiedene private und öffentliche Spitaldienstleister (z. B. LUKS und die Hirslanden-Gruppe etc. – Stichwort ‘Compassana’) in den letzten Jahren stark in Patienten-portale mit vergleichbaren Funktionen wie das EPD investiert. Auch ‘Well’ oder ‘Cuore’ von der Post sind unterwegs mit ähnlichen Angeboten.

Ebenso sieht der bedeutendste häusliche Pflegedienstleister im Großraum Zürich – SPITEX ZÜRICH – im EPD keine wertvolle Unterstützung seiner Dienstleistungen und hält die zukünftige Entwicklung des EPD für eher fraglich. Alternativ arbeitet SPITEX ZÜRICH mit einem Primärsystem für Patienteninformationen, das bedarfsweise auch mobile verfügbar ist und an einem Pilotprojekt mit den Krankenkassen zur automatisierten Vitaldatenerfassung.

Doch sind nicht Technologie oder digitale Verweigerung der Ärzte und/oder Patienten die eigentlichen Problemfelder

Diese Bestrebungen zeigen, dass alle Beteiligten im Gesundheitswesen den gleichen Wunsch haben – nämlich personenbezogene relevante medizinische Informationen (Daten) bei Bedarf möglichst umfassend zur Verfügung zu haben. Dass ohne Digitalisierung nichts geht, ist mittlerweile eine allgemein akzeptierte Realität – im Gesundheitswesen sowie in allen Lebensbereichen. Doch der Übergang zu einem digitalzentrierten Gesundheitssystem ist ein komplexer Veränderungs-prozess, der Investitionen in Technologie und Ausbildung erfordert; und einen tiefgreifenden Mentalitätswandel bei Einzelpersonen und Institutionen.

Heute befinden wir uns mitten in diesem Wandel und sind als Einzelne und als Gesellschaft insgesamt gefordert, nicht von einem „patientenzentrierten“ Kurs abzuweichen. Und genau dies ist der im EPDG enthaltene Zweckartikel: Förderung der Gesundheitskompetenz der Wohnbevölkerung der Schweiz – also Befähigung und Empowerment der Patienten! Erst mit der flächendeckenden Verbreitung des EPD in der Schweizer Wohnbevölkerung kommen wir dem Ziel eines national vernetzen Gesundheitswesen einen wesentlichen Schritt näher.

Das elektronische Patientendossier dient allen Beteiligten in einem zusehends digitalisierten Gesundheitswesen

Das elektronische Patientendossier dient allen Beteiligten in einem digitalisierten Gesundheitswesen

Konklusion

Das Problem der zur Zeit ungenügenden Akzeptanz des EPD liegt also nicht in der Digitalisierung des Gesundheitssystems, dem EPD oder der zugrunde liegenden Gesetzgebung (EPDG), sondern in einer ungenügenden Attraktivität d.h. in der fehlenden Erkennbarkeit eines unmittelbaren und offensichtlichen Nutzens für die Bevölkerung und einer (noch) nicht gereiften Vorstellung, was mit Gesundheitskompetenz oder gar mit digitaler Gesundheitskompetenz gemeint ist.

Digitale Gesundheitskompetenz (oft auch eHealth-Kompetenz genannt), umfasst die Befähigung und Aktivitäten der einzelnen Benutzerin, Verantwortung und Kontrolle für ihre Gesundheit zu übernehmen und mittels digital gestützter Peer-to-Peer-Kommunikation mit Gesundheits-fachkräften ihrer Wahl, unabhängig von Ort und Zeit, digital angebotene Gesundheitsdienst-leistungen in Anspruch nehmen zu können. Die erforderliche eHealth-Kompetenz zu erreichen, ist die zentrale Herausforderung; ein wahres rechtlich-kulturelles Change-Management-Projekt! 

Es ist ein großer Verdienst von Parlament und Bundesrat, mit der Einführung des EPD eine gute und sichere Grundlage für diese zeitgemässen Prozesse geschaffen zu haben. Die sich z.Zt. in Vernehmlassung befindlichen Ergänzungen werden noch verbessern, was schon gut ist. Das Vorliegen eines funktionsfähigen und sicheren EPD ermöglicht einer Mehrheit der Schweizer Bevölkerung den Erwerb und die Nutzung von eHealth-Kompetenz; einer Kompetenz, die im Digitalen Zeitalter zur Notwendigkeit geworden ist.

Falls Sie Fragen zum Elektronischen Patiendossier haben, stehen wir Ihnen gerne zur Verfügung.

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